Für Verschwörungstheoretiker wird der Fall klar sein: Eine unheilige Allianz von Staatsvertretern und Domowina-Abgesandten, die beide nur ihre Ruhe haben wollen, haben im Stiftungsrat der Stiftung für das sorbische Volk gestern die Finanzierung der Vorwahlen für ein sorbisches Parlament blockiert. Man kann sich der Sache natürlich auch rational nähern und die Argumente der „Sejmik“-Befürworter – siehe aktuellen Offenen Brief und Pressemappe – einfach ernst nehmen.

Sie sagen faktisch: Wir sind das Volk, und dieses Volk will ein eigenes Parlament. Maybe. Ich widerspreche dem nicht. Nun gibt es seit 1912 eine gesellschaftliche Formation im Sorbenland, die sagt: Wir sind das Volk, und dieses Volk will einen Dachverband der Vereine, Verbände und Einzelnen, die mitmachen wollen. Das ist die Domowina. Sie steht mittlerweile als legitimierte Interessenvertreterin sorbischer Interessen sogar in sächsischen und brandenburgischen Gesetzen.

Die Stiftung hat die ihr anvertrauten Geldmittel für sorbische Sprache und Kultur auszugeben. Und sonst nichts. Die Frage, wer das „Volk“ ist (das ist ja auch unter Deutschen und gerade in Sachsen zurzeit höchst strittig), müssen wir schon selbst untereinander ausstreiten. Es geht hier ja nicht nur um die Frage der „legitimierten Vertretung“. Da steht Smy e.V. (die Sejmik-Gruppe) gegen Domowina e.V., also Verein gegen Verein.

Im Moment konstituiert sich das „sorbische Volk“ durchs sorbische Mitsprechen, Mitmusizieren, durch gemeinsame Arbeit an Bildung und Kultur, vor allem aber an der sorbischen Community selbst. Das ist wie in einem Dorf, wo Freiwillige Feuerwehr, Sportverein und Dorfklub das gesellschaftliche Leben prägen – auch derer, die selbst nirgendwo mitmachen.

Das „Sejmik“-Modell kreiert ein neues „Volk“: derer, die sich per Postident-Verfahren zum Wahlberechtigten machen. Mit der Folge, dass jemand, der weder sorbisch spricht noch irgendwo am sorbischen Leben mitwirkt, plötzlich „Sorbe“ ist, derjenige, der zu Hause sorbisch spricht, in sorbischem Chor mitsingt, seine Kinder an die sorbische Schule schickt, in den sorbischen Gottesdienst geht usw. usf., aber sich an dieser Wahl nicht beteiligen will, eigentlich nicht mehr.

Wohlgemerkt: Ich halte mich strikt an die Denke der Sejmik-Vorkämpfer, die ja sagen, wer nicht irgendwie Mitglied der Domowina ist, kann durch sie nicht vertreten werden. Dann ist auch der, der sich an den Sejmik-Wahlen nicht beteiligt, durch dieses Gremium nicht vertreten. Das ist eben anders als mit einem sonstigen Parlament, das für ein Territorium zuständig ist und damit auch für die, die da wohnen, aber nicht wählen gegangen sind. Auch die Sejmik-Leute wollen kein (separatistisches) Territorial-Prinzip.

So sagen die Sejmik-Leute: Wir sind das Volk! Und die Domowina sagt: Wir aber auch. Die Pointe ist nun: Während die Domowina staatsfern von der sorbischen Zivilgesellschaft gegründet worden ist, erwartet die Sejmik-Bewegung gewissermaßen vom Staat, an ihre Stelle gesetzt zu werden. Emanzipation geht anders. Ob es im 21. Jahrhundert noch einer aufklärerischen Position entspricht, überhaupt noch abseits des Feuilletons mit dem Begriff „Volk“ zu hantieren, steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht beerdigen beide „Völker“ (Domowina und Sejmik) im Dialog einvernehmlich dieses verstaubte Wort der Vergangenheit, dessen Einheits- und Harmoniewahn in der Postmoderne nicht mehr zeitgemäß ist, und bringen das Sorbische gemeinsam auf einen neuen Begriff.

171127 Offener Brief SR SSV.pdf

Pressemappe 2017.04 DE.pdf

Ein Gedanke zu “„Wir sind das Volk!“ „Wir aber auch!“

  1. Lieber Marcel,
    für die schnellen Leser, bevor sie sich in die von dir dankenswerterweise verlinkten Dokumente vertiefen, zunächst zwei wichtige Richtigstellungen:
    + „Sejmik“ => Serbski Sejm (Volk ist keine quantitative Frage)
    + „Während die Domowina staatsfern von der sorbischen Zivilgesellschaft gegründet worden ist, erwartet die Sejmik-Bewegung gewissermaßen vom Staat, an ihre Stelle gesetzt zu werden.“ => die Domowina ist privatrechtliche Interessenvertretung und soll das unbedingt bleiben. Der Sejm füllt die Lücke der fehlenden öffentlich-rechtlichen Volksvertretung. >> Wer z.B. die Mindestschülerzahl für Sorbisch-/Wendischunterricht, statt weiterhin in einer unzuverlässigen Ministerentscheidung, lieber in einem Staatsvertrag abgesichert wissen will, der unterstützt die Schaffung der dafür nötigen Körperschaft des öffentlichen Rechts, mit dem Sejm als dessen Parlament.
    Wenn die Domowina-Führung statt langjähriger diesbezüglicher Blockade endlich mitmachen würde, wären wir vermutlich schon so weit. Ob denen das bewusst ist?
    Reaktion zur Stiftungsablehnung kommt an anderer Stelle.
    Viele Grüße, Měrćin

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