Wenn mehr oder weniger alle der Meinung sind, dass der Kapitalismus im Grunde an allem irgendwie schuld ist, folgt daraus alles Mögliche – und damit eben nichts. Schaut man sich die zeitgenössische Weltuntergangsliteratur an (Warnung vor Weltbürgerkrieg und so), dann fällt auf, dass sich die Wehklage im Kern auf die Jahrtausende alte Mahnung vor Raffgier, Selbstsucht und deren Folgen reduzieren lässt.

Das können wir bzw. die nach uns Kommenden noch ein paar Jahrtausende fortsetzen, wenn die jeder Generation in Aussicht gestellten Weltuntergänge doch noch so schnell nicht eintreten. Ich wuchs mit der Erwartung des Atomkriegs auf, dann kam das Waldsterben, die sich auflösende Ozonschicht und als Kontinuum die Predigt wider einen angeblich heutzutage besonders schrecklichen Egoismus. Vielleicht braucht die Zivilisation zu ihrer Selbstregulierung auch solche Negativ-Kontrastprogramme, um als Antwort darauf das Beste aus dem Leben zu machen.

Jedenfalls war das Alltagsleben in unseren Breiten noch nie so friedlich wie heute. Noch nie war die Wahrscheinlichkeit so gering, als Kind missbraucht oder als junger Mann in eine Wirtshausschlägerei verwickelt zu werden. Man kann sich in aller Öffentlichkeit skurrilen esoterischen Bräuchen hingeben, ohne als Hexe verbrannt zu werden. Man kann auch praktisch überall zu jeder Zeit spazieren gehen, ohne mit relevanter Wahrscheinlichkeit überfallen zu werden – wahrscheinlich auch deshalb, weil unentwegt vor „rechtsfreien Räumen“ gewarnt wird.

Ich finde, dass in dem verrufenen und seinerzeit vermutlich eher allgemein peinlichen Slogan „Überholen, ohne einzuholen“ aus den Tiefen der DDR bezogen auf die heutige Weltlage viel Wahres steckt. Wenn der Turbokapitalismus mit seinen Transaktionen in Sekundenbruchteilen die ganze Welt umspannt, ohne wirklich die Welt als Eines, Ganzes denken zu können, dann müssen wir genau dies tun.

Also den Kantschen kategorischen Imperativ „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ nicht nur auf die eigene Gemeinde oder das eigene Land oder den Kontinent, sondern die ganze Erde zu denken. Da gibt’s dann in allen Ländern und Gesellschaften – Unterschiedliches – zum Nachdenken. Zum Beispiel bei uns, dass es unverantwortbar ist, dass selbst in Regionen mit abnehmender Bevölkerung die Versiegelung des Bodens unentwegt zunimmt. Zum Beispiel in einem anderen Land, dass man schwerlich stabile soziale Verhältnisse zustande bringt, wenn sich die Bevölkerung alle 15 oder 20 Jahre verdoppelt.

Ich fand immer schon die Diskurse lächerlich, dass die Chinesen das Weltklima gefährden, wenn sie nicht mehr Fahrrad, sondern jetzt auch alle Auto fahren wollen. Vielleicht fahren wir dafür mehr Fahrrad, schließlich haben wir in Mitteleuropa samt Vorfahren bisher weit mehr Autoabgase emittiert und Ressourcen für Kfz-Bau verbraucht als das chinesische Riesenreich. Vielleicht entdecken dann auch die Chinesen, die aufmerksam die ganze Welt beobachten, wieder, dass insbesondere im Großstadt-Gedränge Fahrradfahren das Vernünftigste ist.

Die globale Durchsetzung des kategorischen Imperativs ergibt als Nebenprodukt die angemessene Zähmung des Kapitalismus, der im Kern immer aufs Monopoly-Spiel hinausläuft: Am Ende haben einige wenige fast alle und damit die anderen Griff. Das löst bei denen Wut und Empörung aus, auch bei denen, die gar nicht unter prekären Umständen leben müssen, sondern relativ wohl situiert. Denn der Mensch will – das ist die Frucht der Moderne und damit des Kapitalismus (Achtung, dialektischer Widerspruch!) – das Gefühl haben, Herr seines Lebens zu sein.

Damit ist die Macht der (Finanz- und sonstigen) Oligarchien unvereinbar, die ja eben nicht nach dem kategorischen Imperativ, sondern dem Prinzip der Mafia arbeiten: Wir haben die Macht und dominieren die Gesetzmäßigkeiten unserer Umwelt. Das Paradox der Gegenwart besteht nun darin, dass viele Leute auch in Demokratien solchen oligarchischen Typen huldigen – frei nach dem Motto: Sie kennen sich ja mit dem Bösen in der Welt aus und werden es uns vom Hals halten, wenn wir sie als unsere Paten erwählen. Insofern ist ihr Votum für Trump, Erdoğan oder Putin wie eine politische Schutzgeldzahlung.

Dem tritt man nicht mit moralisierender Anklage im Namen des tatsächlichen oder vermeintlich Guten entgegen, sondern mit Fakten eigener Politik, die die Welt wirklich mehr ins Gleichgewicht bringen. Dazu gehört gnadenlose Plausibilität. Zum Konzept KATEGORISCHER IMPERATIV UND EINE WELT passt nicht, in Deutschland gegen Islamismus zu kämpfen und Saudi-Arabien Waffen zu liefern. Man sieht an diesem Beispiel: Es ist nicht schwer, die Liste des Praktischen, das daraus folgt, jeden Tag zu komplettieren.

Aber eben nur durch „Überholen, ohne einzuholen“, eine schlichte Rückabwicklung des Kapitalismus wäre verheerend. Denn das weltweite Unbehagen am Kapitalismus ist, wie schon angedeutet, die Frucht des Kapitalismus selbst, der die Unterwürfigkeit des Feudalismus beseitigt hat. Das bleibt auch sein historischer Verdienst. Denn zurück zum Feudalismus wollen wir ja nicht, daran ändert auch die weit verbreitete folkloristische Verehrung der britischen Königsfamilie nichts. Im Gegenteil, es ist das unbeschwerte Spiel mit etwas, das zwar für immer vergangen, aber scheinbar schon (stellvertretend für alle) gewissermaßen von den Toten auferstanden ist: als ewig hübsche kleine Familie von Menschen wie du und ich.

2 Gedanken zu “Mit Kant gegen Kapitalismus

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