Warum werden Menschen alt? Um Kultur zu machen. Kleine Kinder sind Natur pur; sie wissen noch nicht, was sie tun. Auch die Jugend wird von überwiegend naturdominierten Antrieben geleitet: die evolutionär sowieso ziemlich späte Flucht aus dem Nest zu organisieren und sich libidinös mit der Welt zu verknüpfen.

Ich sage nicht, sich zu paaren, das war in 99 Prozent der Menschheitsgeschichte, der Altsteinzeit, nämlich anders, wie ich beim Philosophie-Studium in Würzburg von einem hochbetagten Professor gelernt habe. Man lebte in überschaubaren Gruppen, und die Frauen wussten nicht, wer der Vater welches Kindes war. Das war auch irrelevant, weil die Gruppe als Ganzes die soziale Elternschaft für den Nachwuchs wahrgenommen hat. Mit der Sesshaftigkeit und dem Beginn des Besitzens (Neusteinzeit) war dann der Übergang zur Paarung gegeben, was sich seither als Leitmodell kulturübergreifend durchgesetzt hat.

Wenn die Semperoper ihre Abende hat, dürfte ein jugendlicher Autofahrer die ihm vor Veranstaltungsbeginn in der zugehörigen Tiefgarage entgegenströmenden Menschen als unglaublich alt empfinden. Dennoch stirbt die sogenannte Hochkultur nie aus. Denn wenn der beobachtende junge Mensch selbst alt ist, wird er sich mit höherer Wahrscheinlichkeit selbst unter den Konsumenten der Hochkultur befinden.

Natur erfüllt das Bedürfnis nach Sein, Kultur nach Bedeutung. Der Mensch entscheidet sich erst für das Was und erfindet hinterher dazu das Warum. Erst wenn die Natur im Leben kein Selbstläufer mehr ist, wird die Frage aufgeworfen, was das alles soll, womit dann wiederum die natürlichen Ressourcen beflügelt und somit optimiert werden. Kultiviertheit, also die Verfeinerung der natürlichen Abläufe auf der Basis erarbeiteter Wertvorstellungen, ist somit ein Motor der Lebenserwartung. Sie gibt dem Dasein jenseits der evolutionären „Nützlichkeit“ ihren Sinn.

Alle großen Religionen und Philosophien schöpfen ihr irdisches Fundament aus dem Anspruch, dem Menschen das Warum zu beantworten, damit er zu einem ordentlichen Was kommt. Wir stellen aber fest, dass das im biographischen Normalfall andersherum läuft. Weshalb der Mensch schon mal strukturell als Versager oder Sünder gebrandmarkt ist. Die Verarbeitung dieser Erfahrung ist dann auch ein starkes Motiv für Auseinandersetzung mit sich selbst – mit kulturellen Mitteln. Egal, ob Töpfern, Malen oder Singen .

Voraussetzung für Kultur ist eine gewisse archaisch-biologische Dysfunktionalität. Ich liebe Katzen, aber Kultur schaffen sie nicht auszuprägen. Dafür sind sie zu sehr mit sich im Reinen. Damit käme man zur paradoxen Schlussfolgerung, dass die Zunahme sogenannter „Störungen“ bei Minderjährigen nicht nur Altklugheit anwachsen lässt, sondern der Befähigung zur frühzeitigeren Beteiligung an kultureller Bedeutungserzeugung förderlich ist, mit der die reine gesellige Freizeitbeschäftigung zum kultivierten Kosmos avanciert. In dem dann Pubertierende und Greise kreativ kooperieren.

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