Ich bin funktionaler Analphabet auf dem Feld der MINT-Fächer. Die Sprache der Mathematik und der Naturwissenschaften beherrsche ich nicht. Das einschlägige Schulwissen akkumulierte ich prüfungsorientiert, um es dann dem seligen Vergessen anheimfallen zu lassen.
Wir lernen eben fürs Leben, und was zu unserem Leben nicht zu passen scheint, lässt der Kopf zwecks Entlastung wieder entweichen. Wobei der Gebrauchswert großzügig ausgelegt wird: Wenn jemand das Rezitieren mittelhochdeutscher Gedichte als Persönlichkeitsprofil bildende Maßnahme empfindet, wird er sich die Verse des Walther von der Vogelweide zu merken vermögen.
Beim Umgang mit erwachsenen Migranten aus buchlosen Herkunftshaushalten, die ihre Muttersprache nur mündlich und in einfacher Weise können, dazu noch ein paar hundert Worte aus der früheren Landes-Schriftsprache, kann man dieses Phänomen praktisch beobachten: Bei entsprechender Begleitung nehmen sie ein Jahr oder etwas länger täglich neue Worte auf, und dann ist irgendwann gefühlt Schluss. Es geht kaum noch weiter.
Sie haben vermutlich im Deutschen das Differenzierungsvermögen erreicht, das ihnen fürs kommunikative Alltags-Überleben ausreichend erscheint. So wie ich aus der Perspektive des gebildeten idealtypischen MINT-Sachsen auf Analphabeten-Niveau verharre, werden sie meinem Abstraktionsanspruch nicht gerecht, der aus jahrzehntelanger Koexistenz mit Büchern und Zeitungen erwachsen ist.
Wer also wie offensichtlich gebildet oder scheinbar bildungsfern ist, wird somit Ansichtssache. Manche meiner vermeintlich tiefsinnigen Anmerkungen werden mitfühlend beantwortet: „Ist noch alles gut bei dir?“ Spätestens dann sinne ich darüber nach, ob der Faktor individueller Lebenstüchtigkeit bei unserer recht kritiklosen, pauschalen Verehrung „hoher Bildungsstandars“ immer angemessen Berücksichtigung findet.
Es können nicht alle die gleichen Geigen spielen. Gott sei Dank, was wäre das für ein langweiliges Orchester.
„Wärst du auch zu Fuß von Syrien nach Deutschland gekommen?“ – mitsamt einer Woche im Herbst ausschließlich im Wald plus Übernachtungen ohne Schlafsack und Isomatte? Also ich habe immerhin schon Bergtouren in der Schweiz geschafft mit zweitausend Höhenmetern hin und zurück an einem Tag – Start und Zielpunkt war allerdings ein Hotelbett…