Sind die Linken „schuld“ am Vormarsch der Rechten? Ja, sagen immer öfter Interviewpartner und Autoren der sozialistischen Tageszeitung „Neues Deutschland“, deren Redaktion ich von Anfang 1992 bis Ende 1999 angehörte.
Ich denke, das Ding ist ganz einfach. Die Wahrnehmung von Unrecht wird heutzutage vorrangig über den Begriff „Diskriminierung“ vermittelt. Diskriminiert ist beispielsweise ein Mensch, der mit einem Partner gleichen Geschlechts händchenhaltend durch die Stadt läuft und deswegen angepöbelt wird. Diskriminiert ist die muslimische Kopftuch-Trägerin, die wegen ihrer Verhüllung beschimpft wird.
Solche Diskriminierungen werden medial skandalisiert und spielen daher eine öffentliche Rolle. Und diejenigen, die diese Skandalisierung unterstützen, um damit die gesellschaftliche Ächtung solcher Diskriminierungen voranzutreiben, sind im Regelfall wir politische Menschen des linken Spektrums.
Die alleinerziehende Verkäuferin, die während der Arbeit nicht auf die Toilette gehen darf, im Discounter zwischen Kassendienst und Regaleinräumen hin- und herhetzt und inzwischen nicht selten an sechs Tagen die Woche von 7 bis zu tageweise 22 Uhr flexibel einsetzbar ist, um am Ende bestenfalls nur geringfügig mehr finanzielle Mittel monatlich zur Verfügung zu haben, als wenn sie arbeitslose Jobcenter-„Kundin“ wäre – ihr Schicksal gilt weder als Diskriminierung noch wird es zum Skandal gemacht.
Selbstverständlich gibt es einfühlsame Sozialreportagen, die sich solchen sozialen Alltagsdramen zuwenden. Es gibt Parlamentsreden und Pressemitteilungen, die sich wortreich dem massenhaften Problem „prekärer“ Beschäftigung widmen und über mögliche gesetzgeberische Maßnahmen diskutieren. Doch eine Fokussierung der Aufmerksamkeit wie bei den mittlerweile klassischen medialen Diskriminierungsthemen findet nicht statt.
Die linken Traditionalisten graben dann als vermeintliche Lösung den alten Sprech vom Haupt- und Nebenwiderspruch aus: Man müsse erstmal den Kapitalismus besiegen und dann die Emanzipationsfragen in den Blick nehmen. So funktioniert das nicht.
Der Hauptwiderspruch entsteht stets durch den Umsturz des Gleichgewichts des eigenen Lebens durch die äußeren Verhältnisse. Das ist immer konkret, individuell. Und zugleich gemeinsame Erfahrung vieler Menschen.