Ich hab’s nicht so mit der Harmonie. Liegt vielleicht am Erbe des Vaters, des verhinderten Fremdenlegionärs und langjährigen Kriegsreporters, in mir. Gleichgewicht – ja, aber das ist nur möglich, wenn es erst mal Spannungen, Unterschiede gibt.
Das Nachdenken übers „gute Leben“ jenseits der Wirtschaftswohlstandszahlen hat Konjunktur. Dabei taucht gern das Wort „Harmonie“ als maßgebliches Kriterium auf. Das Instrument zu deren Erzeugung sei die Schaffung wechselseitiger „sozialer Abhängigkeit“ – zum Beispiel durch Austausch selbst produzierter Lebensmittel von Nachbarn, erläuterte uns neulich ein sympathischer Dorfbürgermeister bei einem universitären Forum. Schon haben wir höchst harmonische Bilder von Stammtisch und Garten-Idylle im Kopf, und alle sind ergriffen.
Nun ist das mit Harmonie in sozialer Abhängigkeit so eine Sache. Da ich selbst manchmal mit Nachbarn Gebrauchsgegenstände und Unterstützungstätigkeiten tausche, habe ich durchaus ein Faible für solche Storys. Aber bei „sozialen Abhängigkeiten“ leuchten bei mir die Warnleuchten auf, waren sie doch noch vor einigen Generationen hierzulande Basis vieler Zwangsehen, die um der effektiven oder notwendigen Abrundung der Besitzungen vorgenommen wurden.
Der Transformationsprozess sollte nicht zur Regression führen. Die Leute gucken mit Vorliebe spannende Filme, wo die Harmonie eben zunächst massiv gestört ist, um dann wieder glücklich hergestellt zu werden. Und nach Ende des Films wieder zu zerfallen, bis sie erneut zusammengebastelt wird – in neuer, verbesserter Form. Wenn die Filmgeschichte endlos weiterginge.
Die ganze Industriegeschichte, angefangen mit dem sächsischen Silberbergbau vor achthundert Jahren, ist eine Geschichte der Dissonanzen. Weiterführende Gedanken, ja Erfindungen, entstehen nur dort, wo irgendein Konflikt existiert. Ist alles in Butter, haben wir keine Veranlassung zum Durchdenken des derzeitigen Zustandes.
Die vielgeschmähten „Echo-Kammern“ bei Facebook, wo sich Menschen gruppenweise nur noch in der eigenen Meinung radikalisieren und alles andere aus ihrer Gruppe und Weltsicht rausdrängen, ist ja letztlich nur die Rückkehr der alten, in sich strikt getrennten Ständegesellschaft in neuem Gewand. Dem entkommt man nicht durch die Flucht in „Harmonie“, sondern durch die Bereitschaft zum streitbaren Austausch mit denen, die aus anderen Gruppen kommen. Dafür gibt’s ein schönes politisches Modewort: Inklusion.
Es unterscheidet ja gerade die Inklusion von der Integration, dass am Ende nicht gesellschaftliche Gruppen nebeneinander stehen, die unter einem Dach leidlich zusammenhalten. Sondern dass sich die souveränen Individuen selbstbewusst vermengen. Das ist dann das wahrhaft gute, nämlich auch interessante Leben.