Was ich gut finde: Steinmeier hat für seine Frau eine Niere gespendet. Tillich spricht mit seiner Frau Sorbisch.
Ansonsten sind beide „nett“. Damit fängt das Problem an. „Seid nett zueinander!“ war 1948 die legendäre Aktion des westdeutschen konservativen Verlegers Axel Springer, der in der Zeit der Auferstehung aus Ruinen etwas gegen Ellbogenmentalität beim Wiederaufbau nach dem Krieg tun wollte. Es folgten Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung, Wohlstand und die breiteste gesellschaftliche Mittelschicht aller Zeiten – übrigens in BRD wie DDR. Das erleichterte das Nettsein ungemein.
Heute prägen Wohnpaläste und Konsumtempel das Land. Der Professor wohnt aber nirgendwo mehr neben der Putzfrau. Das Proletariat ist weg, dafür haben wir ein wachsendes Prekariat. Das heimliche Regime führen Finanzoligarchen, die nach Tageslaune Fabriken oder Zeitungen kaufen. Das jeweilige Fachpersonal wird zum Kollateralschaden und zumindest vorübergehend überflüssig, während das Geld der Aktionäre infolge solcher „Freisetzungen“ von Beschäftigten im Regelfall besonders unbelastet und ertragreich „arbeitet“. Gute Rahmenbedingungen fürs allgemeine Nettsein sehen anders aus.
Deshalb sagen die „netten“ Politiker auch nichts mehr. Sie sind strukturell sprachlos. Die Qualität von Steinmeier und Tillich besteht in dem, was sie nicht sagen, um bloß niemanden zu beunruhigen. Beide sind mit keiner einzigen markanten politischen Botschaft erinnerungsmächtig in Erscheinung getreten. Steinmeier rechnen wir positiv an, dass er (anders als andere) keine Bösartigkeiten über Russland von sich gibt, und Tillich, dass er (anders als andere) keinen Blödsinn über Ausländer redet. Beide sind eigentlich gar keine Politiker, sondern eine Mischung aus Diplomat und Abteilungsleiter.
Sie verfügen beide über relativ hohe Beliebtheitswerte. Wer eher unpolitisch tickt, kann sie nur mögen, weil sie nicht beunruhigen. Sie stören unser Leben nicht. Sie sind Rädchen in einem Getriebe, das als (regionale bzw. nationale) bürokratische Seite des (globalen) Turbokapitalismus funktioniert: Steinmeier gilt als Architekt der Agenda-2010-Gesetze (Hartz IV u. a.), mit der ein Teil der Bevölkerung per Gesetz in Armut und Abhängigkeit von Sozialbürokratie geschickt wurde. Tillich war das letzte Bollwerk gegen den Mindestlohn und ist damit als neoliberaler Vertreter von Dumpinglohnpolitik ausgewiesen, die es Menschen verunmöglicht, mit ihrer Arbeit eine sichere Existenz – auch fürs Alter – aufbauen zu können.
Ein öffentliches Bewusstsein dieser Mittäterschaft existiert allerdings kaum, weil sich weder Massenmedien noch soziale Netze in nennenswertem Umfang damit befassen. Salopp gesagt, fokussiert sich von rechts bis links der Streit auf die Frage, was man heutzutage sagen darf, ohne „Pack“ zu sein. Die in der Trumpismus-Epoche für den Fortbestand der Zivilisation entscheidende Frage aber ist: Was ist zu tun, damit die Leute nicht aus Panik in den Rache-Modus schalten und als „Pack“ gelten wollen? Wie setzt die Politik Rahmenbedingungen fürs Nettsein? (Das Wort trifft’ s tatsächlich gut, „freundlich und angenehm im Verhalten“, mehr kann man zwischen persönlich Unbekannten nicht erwarten.)
Dass in Deutschland unmittelbar nach der Trump-Wahl der Name Butterwegge wieder auf die öffentliche Bühne tritt, ist eine bemerkenswerte Pointe. Der Mann hat das Potenzial, das öffentliche Bewusstsein für die Gründe des Auseinanderdriftens der Gesellschaft zu schärfen. Er ist damit eine Alternative zu denen, die glauben, man könne an der Oberfläche gesellschaftlichen Frieden herbeireden, ohne den wirtschaftlichen und sozialen Krieg im Hintergrund zu beenden.